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2022 | Anne Jud – Ein Portrait

Sarah Mühlebach, Journalistin: 
Sie ist eine der „vergessenen“ Künstlerinnen, deren vielfältiges Werk erst spät – nach ihrem Tod – Beachtung findet. Erstmals in der Zentralschweiz werden Einblicke in das Schaffen der Performancekünstlerin Anne Jud gezeigt.


LOCKRUF19 rgb webLuzern – Zürich – Wien – Berlin – Kalifornien. Stationen eines Lebens, das die 1953 in Kastanienbaum geborene Kostümbildnerin und Künstlerin Anne Jud von der beschaulichen Innerschweiz in das brodelnde Berlin der 1970er und 1980er Jahre führte – und schliesslich nach Kalifornien, wo sie 2016 unerwartet verstarb. Anne Jud war Teil der Berliner Kunst- und Ausstellungsszene, fertigte Kostümentwürfe für die Strickdesignerin und Untergrund-Ikone Claudia Skoda, war Mitglied der Galerie am Moritzplatz, der auch Künstler:innen der Neuen Wilden angehörten wie Salomé oder der Luzerner Luciano Castelli, und sie realisierte ihre wohl bekannteste Arbeit im SO36, im damals vom Künstler Martin Kippenberger geführten legendären Musikclub. Geschichtsträchtige Orte, illustre Namen. Doch in der Heimat ist Anne Jud kaum ein Begriff. Erstmals überhaupt in der Schweiz zeigte die Kunsthalle Bern 2019 eine Arbeit der Künstlerin in der Gruppenausstellung „Letzte Lockerung“ zum Thema Selbstinszenierung. Höchste Zeit also, ihrem Werk nachzuspüren, das nun in einer Ausstellung in Sursee zu sehen ist.

1980 ES K ER01rgb webVergessen oder ausgeklammert?
„Vergessene Künstlerin wiederentdecken …“. Mit solchen Slogans werben Museen neuerdings gerne für Ausstellungen, die Werke von Frauen aufarbeiten, diese in den Fokus der Aufmerksamkeit setzen und somit ein Stück weit versuchen, Kunstgeschichte neu zu schreiben. Eine unheimlich wichtige Aufgabe, keine Frage. Was in dieser gängigen Formulierung jedoch mitschwingt, ist die problematische Vorstellung vom Vergessen als passivem Handeln. Viel eher ist es einem aktiven Ausblenden geschuldet, den gesellschaftlichen Strukturen, die möglicherweise dazu führten, dass Künstlerinnen verdrängt, ausgeklammert oder missachtet wurden. Diese Gedanken gilt es im Hinterkopf zu behalten, wenn wir heute auf das Werk von Anne Jud zurückblicken, das sich vielleicht gerade aufgrund der Vergänglichkeit der Aktionen und Performances einer längerfristigen Einschreibung in einen Kanon entzog.

Figur, Raum und Zeit
Anne Jud wächst in einem kreativen Umfeld auf. Der Vater ist Kunstlehrer und schafft Metallplastiken, die Mutter schneidert Kleider für die Haute Couture. Zunächst weckt Fotografie Anne Juds Interesse. Sie beginnt eine Lehre als Fotoretoucheuse in Luzern, wendet sich aber bald ihrer zweiten Leidenschaft, dem Theater, zu. Es folgt eine Schauspielausbildung in Zürich und Wien, bevor sie 1974 nach Berlin zieht und dort, neben ihrer Tätigkeit als Kostümbildnerin für Filme und Theaterproduktionen, schliesslich zu ihrer eigenen künstlerischen Praxis findet. Figur, Raum und Zeit sind dabei Konstanten, die Anne Jud in vielen ihrer Arbeiten untersucht. In einem der wenigen überlieferten Interviews erklärt sie, es gehe ihr darum, mit Zeit zu arbeiten, Bewegungsabläufe festzuhalten, sich in Situationen zu begeben, wo sich Zeit nicht mehr messen lässt, wo Zeit bildlich wird, wo man die Zeit verliert.

Allein im leeren Club
Exemplarisch dafür steht die Performance ohne Publikum „Eine Nacht eingeschlossen im SO36“ im damaligen Treffpunkt der New Wave und Punk-Szene Berlins. Eine 36-teilige Fotoserie ist einziges Zeugnis der Aktion aus dem Jahr 1979, bei der sich Anne Jud über Nacht im leeren Club einsperren liess. Maskiert und im Latex-Outfit setzte sie sich mittels Selbstauslöser vor der Kamera in Szene. Die Schwarz-Weiss-Fotografien zeigen die Künstlerin als starke und mysteriöse Figur. Die spitzen Absätze der Pumps sind scharf in die Höhe gereckt oder stramm auf der Bühne verankert. Das Licht wird immer weniger, bis am Ende fast nur noch der Schein der Taschenlampe bleibt, die Anne Jud auch mal gezielt auf die Kamera und somit auf uns Betrachter:innen richtet. In ihrer Inszenierung ist der Aussenblick immer schon mitgedacht und so hat die Künstlerin vorweggenommen, was im Zeitalter von Social Media längst Alltag geworden ist: die Dramaturgie des Lebens als konstante Darstellung unseres Selbst. So stumm die Fotografien auch sind, in ihnen ist der Ton, der Lärm dieses Ortes zumindest gedanklich anwesend.

Klänge, Geräusche, Dollars
Die Ebene des Tons spielt auch in anderen performativen Arbeiten von Anne Jud eine zentrale Rolle. Bereits 1980 interessiert sie sich für die Geräusche, aber auch für das Treiben des urbanen Raums, als sie für die Performance „Sommerpause“ 24 Stunden auf einer überdimensionalen Couch beim Potsdamer Platz verbringt und diese schliesslich als einziges Objekt zurückbleibt. Wiederholt arbeitet sie mit Musiker:innen zusammen. Beispielsweise 1982 für die partizipative Arbeit „Anne Jud – fotografisch“„Anne Jud – fotografisch“, als die Aufforderung an das Publikum, im Ausstellungsraum Fotos von sich selbst zu schiessen, von einer Sound-Arbeit mit dem Titel „Wörtliche Fotografie“ (bestehend aus dem Klang des Auslösens einer Polaroid-Kamera) begleitet wird. In der Performance „Eiskalt“„Eiskalt“ von 1987 wird dann Ton gar zum elementaren Bestandteil, als Anne Jud in einem mit Spiegelfolie ausgekleideten Raum auf Stelzen über Spiegelplatten läuft, die dadurch zerbersten. In augenscheinlichem Kontrast dazu bildet die Beschäftigung mit der Ein-Dollar-Note einen zweiten Schwerpunkt in Anne Juds künstlerischer Tätigkeit. Inspiriert durch einen halbjährigen Studienaufenthalt in den USA und Mexiko 1975/1976 greift sie das Motiv immer wieder auf: Sie setzt die Noten in einem Frühwerk an die Stelle des Klopapiers, kleidet Schuhe oder Hammer damit ein, integriert sie in Mode-Entwürfen. Verwendet sie seriell in Collagen, Rahmungen und Rauminstallationen oder kreiert später mittels Faltungen haptische Objekte. Konsumkritik? Oder Faszination für die universelle Bedeutung dieses bedruckten Scheins?

Kommende Ausstellung in Sursee
Ab 1994 lebte Anne Jud in den USA, wo sie heiratete und – wenn auch zurückgezogen – weiter künstlerisch tätig war. Ihr Nachlass befindet sich jedoch in der Innerschweiz. Die im Januar 2022 geplante und nun auf Juni '22 verschobene Ausstellung im Rathaus Sursee hat zum Ziel, erstmals Einblicke in das vielfältige Werk der Künstlerin zu geben und es zugleich wieder aufleben zu lassen. Auf dem Programm stehen neben Screenings einiger ihrer Filmdokumentationen auch Auftritte von zeitgenössischen Performance-Kunstschaffenden, die den radikalen Geist von Anne Jud zumindest ein Stück weit ins Jetzt tragen.

 


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